Rede von Robert Schopflocher anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an ihn

BUNDESVERDIENSTKREUZ

Sehr geehrter Herr Botschafter, meine Damen und Herren,

Dankbar nehme ich diese hohe Auszeichnung in Empfang, nicht zuletzt weil sie die Hoffung in mir wach ruft, dass ich nicht ganz umsonst auf dieser Welt wandelte, sondern meinen bescheidenen Beitrag geleistet habe, um diese ein klein wenig besser zu verstehen.

Ich empfinde mich als ein Glied der Generationenkette, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet. Gleichzeitig erfüllt mich das Bewusstsein, dass es nicht nur das von den Vorfahren übermittelte Erbe ist, sondern nicht weniger die Umwelt, die mich von Kindesbeinen an geprägt hat. Wie sollte es auch anders sein? Habe ich doch meine Urheimat, das fränkische Fürth, in der Tiefe meines Inneren trotz der noch immer unfassbaren Schrecknisse des 20. Jahrhunderts nie ganz verlassen. Und somit sehe ich mich nicht nur als einer der Zeitgenossen, die vom letzten Schimmer der kurzen Blütezeit profitierten, die das sich gegenseitig befruchtenden deutsch-jüdische Bürgertum ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet hat, wenn freilich auch auf schwankendem Untergrund. Sondern ich bin auch einer der dankbaren Zeugen, die den guten Willen der unbelasteten Nachkriegsgenerationen und den Kniefall Willy Brandts erleben durften.

Dabei kann ich allerdings meinen seelischen Zwiespalt nicht verleugnen, den ich, der ich seit 1937 in Argentinien lebe, bereits vor Jahren in folgendem Gedicht zum Ausdruck brachte, das in meinem Lyrikband „Hintergedanken“ zu finden ist:

 

GESTÄNDNIS

Seit über sechzig Jahren

in Argentinien, aber

beim Worte ‘Baum’

fällt mir zunächst und noch immer

die Dorflinde Rannas ein,

in der Fränkischen Schweiz,

gelegentlich auch eine Eiche,

eine Kiefer oder ein Tannenbaum;

nie dagegen oder doch nur selten

ein Ombú der Pampa,

ein Paraíso in Entre Ríos

ein Ñandubay, Lapacho oder Algarrobo,

wie sich’s doch geziemen würde

schon aus Dankbarkeit

dem lebensrettenden Land gegenüber.

 

Aber ‘Frühling’ bedeutet mir noch immer

Mörikes blau flatterndes Band.

Schiller, Goethe und die Romantik,

Jugendstil, Bauhaus und Expressionismus,

prägten mir ihren Siegel auf,

nicht weniger wie der deutsche Wald,

der deutsche Professor

oder der jüdische Religionsunterricht –

wohlgemerkt: der der letzten Zwanziger-,

der ersten Dreissigerjahre.

Ja, selbst der fragwürdige Struwwelpeter

Karl May Hauff die Grimm’schen Märchen

oder Max und Moritz, diese beiden,

rumoren weiter in mir

und lassen sich nicht ausrotten.

 

Nun ja: Leider! Trotz alledem.

Oder etwa Gottseidank?

Und wo liegt es nun, mein Vaterland?

 

Wo aber liegt mein Vaterland? Elie Wiesel zitiert den Rabbi Nachman aus Brazlaw, einen Urenkel des Mystikers und Begründer des Chassidismus Baal Schem Tow: „An irgend einem Ort lebt ein Mensch der eine Frage aufwirft, auf die es keine Antwort gibt. Eine Generation später, an einem ganz anderen Ort, lebt ein Mensch der auch eine Frage stellt, auf die es ebenfalls keine Antwort gibt – und er weiss nicht, kann es gar nicht wissen -, dass seine Frage in Wirklichkeit eine Antwort auf die erstere darstellt.“

Gestatten Sie mir, dass ich diese Überlegung, der ich nichts hinzuzufügen habe, im Raum stehen lasse.

Und nehmen Sie, sehr verehrter Herr Botschafter, und durch Sie die von Ihnen vertretene Bundesrepublik Deutschland nochmals meinen tiefempfundenen Dank für diese unerwartete Auszeichnung entgegen, deren vielfache Bedeutung mir und meiner Familie voll bewusst ist.